Figur (für Meister Gislebertus), 1984
Diese Figur gehört zu einer Reihe eindrucksvoller Hommagen im Œuvre Cimiottis. 1 Sie steht im nördlichen Seitenschiff des Braunschweiger Doms - und alles stimmt: Unter hohen Gewölben lässt das durch große Fenster herein flutende Licht jede der schlanken Säulen mit ihren gedrehten Rundstäben besonders dynamisch hervortreten. Diese Säulen sprechen mit. Der „Kernplastik“ ihrer Schäfte ist durch die Drehung der Rundstäbe ein Bewegungsmoment eingegeben. Von hier aus, das heißt aus der Verbindung von Festigkeit und immanenter Bewegung, wächst Cimiottis großer Figur ohne Kopf und Arme von ihrer lichten spätgotischen Raumhülle her eine zusätzliche Ausdrucksdimension zu. Die Strebetendenz dieses Torsos, schmal und hoch in die Vertikale gezogen, erscheint wie eingefügt in ein unsichtbares tektonisches Rahmenwerk. Das dynamische Moment hingegen spricht sich in der gehaltenen Aktion des Niederkniens aus. Die Transitorik des, „In die Knie Gehens“ ist das eine, das Streben in die eigene Aufrichte hinein das andere. Die Divergenz der Bewegungen bezieht ihre Spannung nicht zuletzt auch aus dem Inhalt: Obgleich es den Körper demütig herunterzieht, trägt er sich aus eigener Kraft hoch und aufrecht. Im Herab und Herauf durchzieht diese Figur eine große Gebärde der Sehnsucht. Dabei bleibt der Körper auffallend licht. In der Beinpartie gewährt das Gestänge der „Röhrenknochen“ Transparenz und „Einblick“. 2 Auch der gelängte Rumpf wirkt leicht. Wie ein luftiges Gehäuse erscheint er aus durchbrochenen Segmenten aufgebaut. Eberhard Roters brachte es auf den Punkt: „[...] ein hochaufgerichteter wie mumifiziert wirkender sehnig-rippiger Leib, dessen Aura das alte Strukturmotiv in eine Verklärung hebt“. 3 Als die Arbeit beendet war, sah sich Cimiotti an den Habitus bestimmter Figuren des mittelalterlichen Meisters Gislebertus in der Kathedrale St. Lazare in Autun erinnert. Tatsächlich sind Parallelen gegeben. Die Figuren von Gislebertus (in Autun tätig etwa von 1120-1135) Sind auffallend überlängt und oftmals in den Knien scharf abgesenkt. Streckung und gleichzeitige Beugung charakterisieren bei Gislebertus einen Gestalttypus, den Thorsten Droste so charakterisierte: „Alle Gestalten sind über die Maßen gestreckt. In ihrer manieristischen Überlängung erscheinen sie entkörperlicht und dadurch einem Bereich zugehörig, der nicht mehr von dieser Welt ist“. 4 Der Bezug zu Gislebertus kommt bei Cimiotti nicht von ungefähr. Im Gespräch mit dem Künstler wurde rasch deutlich, wie gut er mittelalterliche Skulpturen kennt. Man muss ihm genau zuhören, wenn er wie beiläufig bestimmte Werke seiner Wahl erwähnt - so etwa die Pietá in der St.-Jacobi-Kirche von Goslar, die der spätgotische Bildhauer Hans Witten von Köln schuf. 5 Besonders wichtig ist Cimiotti die um 1015 entstandene Bernwardstür im Dom von Hildesheim. An der inneren Beweglichkeit ihrer Bronzefiguren, z. B. in der Szene der „Vertreibung aus dem Paradies“, 6 kann er sich nicht sattsehen. Überdies spricht Cimiottis Wertschätzung mittelalterlicher Skulptur nicht zuletzt aus seinen kleinen Tödlein-Bronzen (2002), 7 die ihrerseits auf Memento-mori-Figuren der frühen Neuzeit zurückgehen. Woher rührt diese Vorliebe, um nicht zusagen Affinität? Kann es sein, dass Cimiotti in den Figuren der christlich-mittelalterlichen Ausdruckskulptur auf jene Lebensfülle und Wärme trifft, die er seinerseits als abstrakter Künstler in der durchfühlten Sensibilität seiner Formfindungen ebenfalls anstrebt? 8
Anmerkungen 1 Hierzu Christa Lichtenstern, in: Emil Cimiotti „Den Raum ganz anders besetzen", bearb. v. Veronika Wiegartz, Ausst.-Kat. Gerhard-Marcks-Haus, Bremen 2012, S. 38-53. Der Bremer Aufsatz wie der vorliegende Beitrag wurde wesentlich gefördert durch das Ateliergespräch, das die Verfasserin am 3. März 2012 mit dem Künstler führen konnte. Dafür meinen herzlichen Dank!
2 Vgl. Lothar Romain, „Zur Plastik von Emil Cimiotti“, in: Theo Bergenthal / Joachim Stracke (Hrsg.), Emil Cimiotti, Heidelberg 2005, S. 92.
3 Eberhard Roters, Emil Cimiotti, Hannover 1989, S. 56.
4 Thorsten Droste, Burgund. Kernland des europäischen Mittelalters, München 2001, 2., überarb. Aufl. 2006, S. 94. Außerdem wichtig: Denis Grivot / George Zarnecki, Gislebertus Sculpteur d'Autun, Paris 1960.
5 Geboren 1470/80 in Braunschweig; gestorben nach 1522, vermutlich in Annaberg.
6 Michael Brandt, Bernwards Tür. Schätze aus dem Dom zu Hildesheim, Regensburg 2010, S. 41 ff.
7 Ein charakteristisches Exemplar von 2002 findet sich ausgestellt in: Emil Cimiotti. Wege zur Vollendung. Eine Hommage zum 85. Geburtstag, Galerie Ohse, Bremen, 23. Juni bis 4. August 2012. Ein weiteres Beispiel ist abgebildet in: Bergenthal / Stracke 2005 (wie Anm. 2), S. 242.
8 Die Perspektive moderner Bildhauer auf mittelalterliche Plastik böte ein reiches, in sich differenziertes Untersuchungsfeld. Man denke nur an Henri Laurens, Morice Lipsi, Gerhard Marcks, Hans Steinbrenner und Michael Croissant.
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